Katze am See LESEPROBE


Die Katze am See


Eins

Der Kater lag auf der Terrasse vor dem Haus. Seine Ohren warfen lange Schatten über den warmen Stein. Drei Tage hatte er in stickiger Hitze unter dem Sofa verbracht und durch die geöffnete Flügeltür auf den See geschaut. Am Abend des dritten Tages war ein kühler Wind aufgekommen. Der Wind fuhr durch die Äste der Bäume am Ufer. Er bewegte das Wasser des Sees. Der Kater hatte dem Wind nicht widerstehen können. Es war ein wohltuender Wind, der seine Schnurrhaare wippen ließ. Ein Wind, der Schönwetterwolken über den Himmel trieb.
Als die Schönwetterwolken das andere Ufer erreichten, stieg ihm ein sumpfiger Geruch in die Nase. Er kam vom westlichen Rand des Sees, wo die Erlen der Bruchwaldzone über den Schilfgürtel ragten. Der Kater mochte den Geruch des Waldes nicht. Es schien der Geruch der Natur zu sein. Der Kater war skeptisch, was die Natur anging.
Sie hatte ihn in seinen Korb gesetzt und den Korb auf dem Beifahrersitz angeschnallt. Die Autobahnfahrt war eine Abfolge blauer Schilder gewesen, die in hoher Geschwindigkeit auf ihn zugekommen waren. Er hatte die Schilder durch den Schlitz im Deckel des Korbes gesehen, während er zwischen Erbrechen und Erleichtern geschwankt hatte. Bei Lehnin waren sie von der Autobahn abgefahren, um den Ort mit den Backsteinbauten des Zisterzienserklosters zu durchqueren. Als das Kopfsteinpflaster am Wagen gerüttelt hatte, war die Angst in ihm hochgekrochen. Die Reste seiner Würde hatten sich verflüchtigt und sein glänzendes Fell war stumpf geworden.
Nachdem sie den Ort passiert hatten, waren sie auf eine Landstraße gekommen, die durch dichten Mischwald führte. Der Landstraße war ein Sandweg gefolgt. Die Fahrt hatte in der Abgeschiedenheit dreier Häuser am Ufer eines Sees geendet.
Er war Didier de Marche, Träger des Ordens der Ehrenlegion. Zu seinen Freunden zählten Jacques Derrida, Benito Mussolini und Paul McCartney. Als sich der Deckel des Korbes geöffnet hatte, war er augenblicklich unter dem Sofa verschwunden. Er wollte das Haus nicht erkunden, er wollte nicht durch die Flügeltür auf die Terrasse gehen. Er war zu Recht wütend, weil man ihn gegen seinen Willen an einen Ort zwischen Wald und Wasser gebracht hatte, an dem die Mückenschwärme in der Dämmerung tanzten. Zudem gab es Katzen in diesem Haus, mehrere fremde Katzen. Er konnte sie riechen. Der Kater war skeptisch, was fremde Katzen anging.
Er war unter dem Sofa geblieben und hatte das Essen unberührt stehen lassen. Zumindest das Essen, das als reguläre Mahlzeit galt. Den Mozzarella, der in winzige Stücke geschnitten auf Tellern unter das Sofa geschoben worden war, hatte er regelmäßig in kurzer Zeit verschlungen. Er wollte es nicht als ein Zeichen abnehmender Wut verstanden wissen, musste sich allerdings eingestehen, dass es genau so gewertet werden würde. Hätte er den Büffelmozzarella etwa umkommen lassen sollen? Wahrscheinlicher war es, dass sich die anderen Katzen über seine Sondermahlzeiten hergemacht hätten.
Andere Katzen! Sie hatten ihn schnell bemerkt. Zähne waren gezeigt worden. Er befand sich im Revier eines getigerten Katers, dessen makellose Schneidezähne in vollständigen Reihen standen. Der getigerte Kater hatte gefaucht und mit der Pfote auf den Boden geschlagen. Es gab einen zweiten Kater, der pantherschwarz und fettleibig war. Er schlich mit abwärts gebogenem Schwanz tief geduckt um das Sofa.
Inzwischen lag die Terrasse im Schatten. Die Sonne hatte sich hinter die Bäume am westlichen Ufer des Sees gesenkt. Der Kater richtete seine Ohren auf das ferne Geräusch eines Motorbootes. Je näher das Boot kam, umso mehr kniff er die Augen zusammen. Schmal wie Schlangenaugen waren sie, als das Boot hinter der Insel verschwand. Er hob eine Pfote vor das Gesicht und putzte sie sorgfältig zwischen den Krallen, wobei er die Pflege für einen Moment unterbrach, um dem Boot, das auf der anderen Seite der Insel zum Vorschein gekommen war, finster nachzuschauen.
Während die Geräusche des Bootes an Lautstärke abnahmen, ging der Kater dazu über, sein rechtes Vorderbein zu putzen. Er löste verknotete Haare mit den Zähnen und leckte das Fell von der Schulter bis zur Pfote. Das Fell des Katers war schwarz, die Pfoten aber waren weiß, zudem der Bauch, die Brust und die Schnauze, wobei sich im weißen Fell neben der Nase ein schwarzer Fleck und unter dem Kinn ein schwarzer Streifen befand. Der Kater war der Ansicht, dass ihm Fleck und Streifen ein verwegenes Aussehen gaben. Er drehte den Kopf weit zurück, um so gut es ging sein Rückenfell putzen zu können. Aus den Augenwinkeln sah er die Mückenschwärme über dem See. Springende Fische fielen klatschend auf die Wasserfläche.
Der fettleibige Kater näherte sich von der Flügeltür her und setzte sich etwa einen Meter entfernt auf den Granit. Aus dem pantherschwarzen Fell des Kopfes schauten smaragdgrüne Augen, die nicht aufhörten zu blinzeln, bis sie selbst ein Blinzeln erhielten. Unter beständigem Gähnen ließ sich der fettleibige Kater auf die Seite fallen.
„Es ist für uns alle eine neue Situation“, sagte er und sein gewaltiger Bauch wackelte. „Möglicherweise wird die Konstellation Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Andererseits bekommen wir plötzlich besseres Essen. Ich heiße Ludwig und du musst Didier sein.“
Der Kater betrachtete Ludwigs mächtigen Bauch und malte sich die Wirkung besseren Essens auf dessen Umfang aus. Der fette Kater würde bei einer weiteren Zunahme kaum noch mit den Pfoten auf den Boden reichen. Das Fell des riesigen Bauches war an manchen Stellen nicht mehr vorhanden, was den Schluss nahelegte, dass der Bauch über Parkett, Granit und Rasen schleifte.
Der Name des Katers hatte kein Geheimnis bleiben können, denn er war in den vergangenen drei Tagen beständig zu hören gewesen, sobald Tamira ihre Arbeit unterbrochen hatte. Der Kater hätte antworten können, dass er tatsächlich Didier genannt wurde und die Situation für ihn mit Sicherheit unangenehm war, weil man ihn aus seinem Revier entführt hatte, um ihn über Autobahn und Kopfsteinpflaster zu fahren, und er sich nun in einem Haus mit mehreren fremden Katzen befand. Zudem würde sich für ihn in der Frage des Essens nichts verbessern, da er befürchten musste, dass sich ein fetter Kater über seinen Teller mit Thunfisch, Lachs oder Huhn hermachte, sobald er kurz in die andere Richtung schaute. Der Kater hätte gern ein wenig Hühnerbrust gegessen, er war allerdings noch immer im Hungerstreik und den würde er auch nicht beenden, nur weil er nicht mehr unter dem Sofa hockte. Er konnte sich aber auf lange Sicht nicht allein von Sondermahlzeiten ernähren, obwohl er es, wenn es um Mozzarella ging, durchaus darauf hätte ankommen lassen. Der Kater hatte einen wiederkehrenden Traum, in dem es Mozzarella regnete.
Anstatt zu antworten, setzte er sich aufrecht hin, gähnte ausgiebig in Ludwigs Richtung und begann, eine Pfote über Kopf und Ohren zu ziehen, wobei er die Pfote zwischendurch mit der Zunge befeuchtete. Ein Käfer, der in einem unbestimmten Kurs über die Terrasse lief, kam ihm mehrmals so nah, dass er vorsichtshalber ein Stück zurückwich. Er hatte eine böse Erinnerung an einen Käfer, den er gejagt, erlegt und gegessen hatte. Eine Woche Durchfall hatte ihm dieser Käfer eingebracht. Der Kater ging den Käfern lieber aus dem Weg.
„Möchtest du vielleicht zum See mitkommen?“, fragte Ludwig. „Wir könnten uns auf den Steg setzen. Die Fische springen gerade und manchmal landet einer auf den Planken. Ich würde die Fische ja aus dem Wasser holen, doch ich fürchte, meine Technik ist nicht gut genug.“
Der Kater konnte sich vorstellen, wie der fette Ludwig auf seinem drallen Bauch lag und versuchte, mit den Pfoten die Fische im Wasser zu erreichen. Nun war er auch nicht gerade die Art von Katze, die ihr Essen gewöhnlich selbst fing. Er schaute über den abfallenden Rasen zum Wasser, wo ein schlecht befestigtes Ruderboot im Rhythmus der Wellen gegen die Stegpfeiler schlug. Es gab einen weiteren Steg, der zum Nachbarhaus auf der rechten Seite gehörte, und einen dritten beim links gelegenen Haus. Am Steg des linken Nachbarn war gleichfalls ein Ruderboot befestigt. Die Mücken tanzten ihren Hochzeitstanz, die Fische sprangen. 
„Ich denke, wir machen es an einem anderen Tag, Ludwig. Der Sommer ist lang, da ergeben sich bestimmt noch Gelegenheiten.“
Ludwig schien hocherfreut zu sein, er rollte sich auf den Rücken und zurück auf die Seite. „Gut, an einem anderen Tag. Oskar wird dann gewiss auch mitkommen. Er ist ein brillanter Fischer und er überlässt mir immer den größeren Teil des Fangs.“
Oskar musste der getigerte Kater sein. Er hatte entweder mildtätige Charakterzüge oder er wollte den fetten Kater zum Platzen bringen. Im selben Augenblick kam er um die Ecke des Hauses. Didier streckte die Beine und richtete sich zu voller Größe auf. Das Fell war entlang seines Rückgrats gesträubt. Die aufgestellten Ohren drehten sich zur Seite. Seine Bewegungen liefen in einer kaum erträglichen Langsamkeit ab. Er zeigte dem auf einen halben Meter herangekommenen Kater die Flanke und starrte ihn aus engen Pupillen an. Der getigerte Kater starrte zurück. Er hatte die Beine gestreckt, das Fell gesträubt und die Ohren zur Seite gedreht.
Didier hatte durchaus Verständnis für die Aggressivität des getigerten Katers, schließlich war er unvermittelt in dessen Revier eingedrungen. Andererseits befand er sich nicht freiwillig in diesem Revier, er wäre viel lieber in der kleinen Wohnung geblieben, um vom Fensterbrett aus die Vögel auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses zu beobachten. Er starrte, bis ihm die Augen wehtaten. Der getigerte Kater bewegte sich nicht. Dieser Kater war ein Monument des Starrens und der Schmerz in Didiers Augen nahm zu. Er hätte die Augen so gern für einen Moment geschlossen oder zumindest ein Bein verlagert. Er war kurz davor, das Bein zu verlagern, als sich Ludwigs außerordentlicher Bauch zwischen die starrenden Augenpaare schob: „O bitte, diese Streitigkeiten führen zu nichts. Hier ist genug Platz für jeden von uns.“
Didier war froh, dass er das Starren abbrechen konnte, und wenn es genug Platz für Ludwig gab, schien der Kampf um den Raum des Reviers tatsächlich unnötig zu sein. Didier hob sehr langsam sein rechtes Vorderbein. Oskar fauchte abschließend und dann gähnten alle und schauten in verschiedene Richtungen.

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